s259 Wie der Autopilot uns meist sicher durchs Leben führt

„Die emotive Entscheidung kommt mit über 90% am häufigsten vor, findet jedoch meist eine geringe Beachtung bei der Entscheidungsdiskussion.“ RICHARD GRAF

Die Entscheidung durch das Emotionssystem ohne bewusstes Zutun ist die häufigste menschliche Entscheidungsform. Der Einwand, das sei doch keine Entscheidung, unser Autopilot steuere doch nur unser Verhalten, ist durchaus richtig. Jedoch geht jeglichem Verhalten eine Entscheidung voraus, sei sie nun bewusst oder unbewusst herbeigeführt.

Entscheidung vor Verhalten
Abbildung01: Jedem Verhalten geht eine Entscheidung voraus

Wer oder was lässt uns Hindernissen ausweichen, wenn wir mit dem Smart-Phone durch die Fußgängerzone laufen und unsere Aufgaben erledigen?  Welche Intelligenz fällt blitzschnell diese Entscheidung und lässt uns Treppen steigen sowie Autofahren, ohne dass wir darüber nachdenken und bewusst entscheiden müssen? Nach welcher Logik entscheidet der Autopilot, dass die Kognition aktiviert wird und ihr bewusst das Steuer übergeben wird?

Verhalten durch Entscheidungssysteme
Abbildung02: Beide Entscheidungssysteme können unser Verhalten steuern

Menschliches Verhalten kann vom Emotionssystem, dem Autopiloten, aber auch bewusst durch das Kognitionssystem ausgeführt werden kann. Es wird immer dann aktiviert, wenn das Emotionssystem die Situation nicht bewältigen kann. Dieser Vorgang wird meist von einem unangenehmen Gefühl begleitet, mit der Folge, dass das Kognitionssystem als anstrengend empfunden und das Emotionssystem als mühelos bezeichnet wird, weil wir es nicht bemerken.

Diese Eigenheit der Entscheidungssysteme ist eine der Ursachen, warum die unterschiedlichen Entscheidungsformen so schwer zu erkennen und zu verstehen sind und die Diskussion darüber häufig so polarisierend geführt wird. Eine der häufigsten Fragen: Kopf oder Bauch? entspringt dieser Dynamik, die mit der Untrennbarkeit der Entscheidungssysteme einfach erklärt werden kann. 

Wer fährt Auto?

Der Schweizer Psychiater Luc Ciompi bezeichnet bereits seit 1982 die Wirkprinzipien im Emotionssystem als Affektlogik. Emotionen dienen dem Leben und bewegen Menschen durchs Leben, indem eine vorgegebene sowie individuell entwickelte Emotionslogik flexibel auf gegebene Situationen reagiert. Das ist die Aufgabe, die Emotionen bewältigen und für die sie die Evolution geformt hat. Den negativen Ruf haben sich Emotionen zum einen dadurch erworben, dass sich das Emotionsgefühl meist sehr unangenehm anfühlt.

Zum anderen werden Emotionen als negativ eingeordnet, weil sie in emotiv-kognitiven Zyklen bei höherer emotionaler Erregung die langfristige Planung und soziale Bewertung dominieren sowie bei extremer Erregung deaktivieren. Joseph Ledoux nannte 1998 den Weg im Emotionssystem „Low Road“ und entsprechend den Weg im Kognitionssystem „High Road“.

Kritiker mögen einwenden, das Emotionssystem könne vielleicht einfache Lebenssituationen meistern, aber doch nicht komplexe. Schon Autofahren ist ein komplexer Vorgang. Sind Sie schon mal tief in Gedanken versunken autogefahren und waren quasi „plötzlich“ zuhause, ohne zu wissen, welchen Weg Sie genau fuhren, beziehungsweise Sie erinnern bestimmte Passagen nicht? Die Merkmale, dass etwas dem Bewussten nicht zugänglich und mühelos war wie die unbeschwerte Fahrt, sind Hinweise auf das Emotionssystem.

Der viel zitierte Autopilot ist ihr Emotionssystem, das Daniel Kahneman 1997 als System 1 bezeichnet hat. Die fehlende bewusste Erinnerung ist somit nur ein Hinweis, dass das Emotionssystem allein agiert hat. Es ist nicht eine magische unerklärliche Instanz. Es ist Ihr Emotionssystem, und die in ihm verarbeiteten neuronalen emotionalen Programme (neP=Emotionen) sind durchaus in der Lage, komplexe Situationen zu bewältigen. Sie werden vielleicht sagen: nein, ich erinnere mich. Diese Erinnerung und Aussage stimmen natürlich auch, weil es immer wieder Situationen gab, in dem das Kognitionssystem aktiviert wurde. Doch manchmal geschieht es, dass man vor der Haustüre steht und keinerlei Erinnerung an die vergangenen Minuten hat.

Autopilot Emotionssystem
Abbildung03: Meist fährt das Emotionssystem das Auto

Das durch wiederholtes Erleben im Straßenverkehr erlernte Erfahrungswissen wird im Emotionssystem als neuronale Struktur (neS=Gehirnareale, die emotive Zyklen ausführen) repräsentiert. Mit diesen „gelernten“ beziehungsweise konditionierten neuronalen emotionalen Programmen kann das Emotionssystem autonom agieren. Als Neuling im Straßenverkehr waren die nePs noch nicht so ausgeprägt, und die Vorgänge mussten bewusst mit dem Kognitionssystem ausgeführt werden. Die Merkmale des Kognitionssystems sind in dieser Lernphase gut zu erleben: mühevoll, langsam und bewusst. Als Anfänger musste man das Kognitionssystem bewusst aktivieren, damit die Vorgänge wie Lenken, Schalten, Bremsen, Gas geben, Beobachtung des Verkehrs initiiert werden.

Als Anfänger fährt das Kognitionssystem und als erfahrener Autofahrer verfügen wir über ein Emotionssystem, das in der Lage ist, autonom zu fahren.

Um die einleitende Frage: Wer fährt das Auto? zu beantworten: Meist fährt das Emotionssystem. Wir haben es, wie so oft, mit dem Sowohl-als-auch zu tun.

Die emotive Entscheidung

Der Autopilot beschreibt den Charakter der emotiven Entscheidung sehr gut, weil nach der Entscheidung direkt in eine Handlung übergegangen wird. Der Name zeigt aber auch an, dass die Qualität wesentlich von der Entscheidung abhängt. Im Gegensatz zur Affektlogik wirken die Emotionen beim Autopiloten im Hintergrund. Die emotionale Erregung ist so schwach (1 bis 3 auf der KiE-Skala), dass die Wirkung der Emotionen nicht von Gefühlen begleitet wird und wir die Emotionen somit nicht bewusst wahrnehmen.

Entscheidung bei niedriger emotionaler Erregung
Abbildung04: Die emotive Entscheidung bei niedriger emotionaler Erregung – der Autopilot

Die emotive Entscheidung kommt mit über 90% am häufigsten vor, findet jedoch meist eine geringe Beachtung bei der Entscheidungsdiskussion. Die Qualität der emotiven Entscheidung hängt primär vom im Emotionssystem repräsentierten Erfahrungswissen ab. Auch hier gibt es wieder einen funktionalen (angemessen) und zwei dysfunktionale Bereiche (zu wenig – zu viel).

Autopilot Emotionssystem
Abbildung05: Funktionale und dysfunktionale Bereiche von Erfahrungswissen

Da wir kein Bewusstsein über den Autopiloten haben und er bei geringer Erfahrung zu dilettantischen Entscheidungen führt sowie bei übertriebenem Expertentum zu Vorurteilen, sollten wir ihn durch die intuitive Entscheidung oder die KiE-Entscheidungsstrategie ersetzen.

Die emotionale Erregung färbt die Entscheidungsformen

Die emotionale Erregung wirkt als wesentliche Größe in den unterschiedlichen Entscheidungsformen. Mit ihr lässt sich eine erste Kategorisierung für die einzelnen Formen erstellen. In der Folge werden die einzelnen Entscheidungsformen in Beitragsserie vorgestellt.

Die emotive Entscheidung
Abbildung06: Der Einfluss der emotionalen Erregung auf die Entscheidungsformen

Mehr zur Artikelreihe menschliche Entscheidungsformen

Weitere Beiträge über die unterschiedlichen menschlichen Entscheidungsformen findest Du nach den Quellen unten bei Schlagworte „Artikelreihe menschliche Entscheidungsformen“.

Mehr zur Artikelreihe Künstliche Intelligenz

Weitere Beiträge über künstliche Intelligenz und wie diese mit KiE erweitert werden kann findest Du nach den Quellen unten bei Schlagworte „Künstliche Intelligenz“.

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April 2020 – Richard Graf, Elsa Graf

„Die emotive Entscheidung kommt mit über 90% am häufigsten vor, findet jedoch meist eine geringe Beachtung bei der Entscheidungsdiskussion.“ Richard Graf

Quellen:

Quelle: GRAF, Richard. Die neue Entscheidungskultur: Mit gemeinsam getragenen Entscheidungen zum Erfolg. Carl Hanser Verlag München 2018

CIOMPI, Luc. Affektlogik. Über die Struktur der Psyche und ihre Entwicklung. Klett-Cotta, Stuttgart 1982

CIOMPI, Luc. Die emotionalen Grundlagen des Denkens. Entwurf einer fraktalen Affektlogik. Vandenhoeck & Ruprecht 1997

KAHNEMAN, Daniel. Thinking, fast and slow. Macmillan, 2011

LEDOUX, Joseph. Das Netz der Gefühle. Wie Emotionen entstehen. München: Hanser, 1998