Die Schwächen und Risiken der Intuition sind offensichtlich. Da die Intuition in jeder Entscheidung wirkt, ob wir sie wahrnehmen oder nicht, sollten wir sie nicht ignorieren. Eingebunden in DecisionMaking-Werkzeuge wird die Intuition zur bewussten Entscheidung: garantiert, schnell und präzise.
Die natürliche Intuition ist das Prozessergebnis des Emotionssystems, das schnell, mühelos und unaufgefordert aus der Untrennbarkeit von Emotionen, Intuition und Kognition, der KiE-Trilogie, entsteht (siehe Beitrag 260 in der Artikelserie menschliche Entscheidungsformen). Die natürliche Intuition kann an zwei Kriterien trennscharf erkannt werden: dem klar wahrzunehmenden Bewegungsimpuls (Abb.1: 4), auch als Bauchgefühl bezeichnet, sowie an der Geschwindigkeit (Abb.1: 5) von circa 350 Millisekunden (Libet 1983).
Die natürliche Intuition schränken Merkmale erheblich ein, die ihre Anwendbarkeit erschweren:
- geringe Differenzierung mit „Nein“ und „Ja“: der Bewegungsimpuls (No-go bzw. Go) wird kognitiv als „Nein“ bzw. „Ja“ interpretiert (Abb.1: 1)
- sie geht in der Dominanz der kognitiven Konstrukte wie Erklärungen, Begründungen und Rechtfertigungen unter (Abb.1: 2)
- sie kann nicht begründet werden: die Logik, nach der die Intuition gebildet wird, ist dem Bewussten nicht zugänglich (Abb.1: 3)
Wie häufig wurde der wertvolle Einwand „nein, ich glaube nicht an den Projekterfolg, jedoch kann ich (noch) nicht sagen, warum“ zurückgewiesen, um im Nachhinein als Rechtfertigung „ich habe es doch gewusst“ sowie als Entschuldigung beim Scheitern zu dienen.
Die Einschränkungen haben zur polarisierenden Diskussion um Qualität, Bedeutung und Anwendbarkeit der natürlichen Intuition geführt. Die Einschränkungen können jedoch bewusst umgangen werden.
Die KiE-Skala löst die Einschränkungen
Die KiE-Skala gibt der natürlichen Intuition einen Rahmen, der sie zu einer in vielen Belangen überlegenen Entscheidungsform macht: garantiert, schnell, präzise und trennscharf (siehe Beitrag 224 in der Serie KiE-DecisionMaking-Tools). Dabei dient die KiE-Skala einmal als externaler sowie als internaler Stimulus mit der Leitfrage (Abb.:2 A) sowie einem normierenden Fokus mit dem KiE-Skalentyp (Abb.: B) und den Bedeutungsbereichen (Abb.: C).
Die KiE-Skala dient ebenfalls als Vorgabe für die intuitive Entscheidung (Abb.3: 2), die ausschließlich als KiE-Zahl ausgedrückt wird. Die menschliche Intuition reagiert mit einem natürlichen Impuls auf die KiE-Skala, weil sie selbst an der Untrennbarkeit von Emotionen, Intuition und Kognition ausgerichtet ist. Ein Bewegungssystem, das dem Überleben dient, muss entscheiden. Die KiE-Skala hat folglich keine Mitte und forciert immer eine Entscheidung. Die Asymmetrie bildet die Verlustaversion ab und erlaubt den natürlichen Bewegungsimpuls, der sonst zwischen Emotions- und Kognitionssystem blockiert werden würde.
Mit der KiE-Skala wird die natürliche Intuition zur KiE-Intuition
Die natürliche Intuition wird zur KiE-Intuition, wenn sie mit der KiE-Skala bewusst aufgefordert wird. Die Leitfrage (Abb.2 A und Abb.3 A) fungiert bei der Aufforderung als externaler Stimulus beziehungsweise als internaler Stimulus im emotiv-kognitiven Zyklus.
Die KiE-Skala (Abb.2) insbesondere die Leitfrage hat einen gezielten inneren Aufbau, mit dem der Bewegungsimpuls ausgelöst wird. Die Formulierung der Leitfrage (Abb.3 A) „Wie weit . . .“ dehnt die polare Antwort („No-go“ und „Go“) auf die KiE-Zahlen von 1 bis 10 aus (Abb.: 3 B). In Verbindung mit den Bedeutungsbereichen (Abb.3: C) reagiert die natürliche Intuition und lässt sich mühelos auf der KiE-Skala abbilden. Damit dies gelingt und die KiE-Intuition trennscharf zu erkennen ist, muss der Prozess nach dem Impuls unterbrochen werden (Abb.3: Stop).
Wie sie dann erscheint, ist vielfältig. Viele Menschen sehen tatsächlich eine Zahl, einige in den Farben (rot, blau und grün). Häufig wird die Position der KiE-Zahl (rangiert von1 bis 10) auf der KiE-Skala gefühlt oder sicher gewusst und manche ahnen sie. Einige bekommen kein innere visuelle Repräsentation, sondern ermitteln sie über die Position der KiE-Zahl auf der KiE-Skala. Ein Architekt konnte die KiE-Intuition nur erfahren, wenn er auf der selbst gefertigten KiE-Skala mit dem Finger entlangfuhr. Die gefühlte Position des „Einrastens“ bei der KiE-Zahl war jedoch präzise und sicher.
Die KiE-Intuition ist als bewusste Entscheidung (Abb.3: 5) trennscharf auf der KiE-Skala zu erkennen.
Der Nutzen: eine garantierte, schnelle and präzise Entscheidung
Mit der KiE-Skala als Stimulus sowie als Rahmen für die Ergebnis-Repräsentation wird die intuitive Entscheidung zur KiE-Intuition und erhält Merkmale, die sie im Vergleich zu anderen Entscheidungsformen überlegen macht:
- garantiert – wovon alle Entscheider, Teams und Unternehmer träumen (Abb.4: 3). Das Emotionssysstem reagiert immer (Libet 1983, Kornhuber/Deecke 1964, Damásio 1994, LeDoux 1996, Deecke 2018, de Gelder 2015 und 2020)
- schnell – jeder Entscheider erhält nach knapp einer halben Sekunde (circa 350 Millisekunden) eine intuitive Entscheidung (Abb.4: 4). Die KiE-Intuition ist damit schneller als jeder Form von bewusster Entscheidung (Libet 1983)
- präzise – mit der KiE-Skala erhält der Entscheider eine differenzierte Entscheidung (Abb.4: 1). Die Umfragen und Erfahrungen in Workshops, Projekten und Coachings mit 4.000 Teilnehmern bestätigen diese Erfahrung (Graf 2018)
- trennscharf – die intuitive Entscheidung kann von allen anderen menschlichen Entscheidungsformen durch die Geschwindigkeit (Libet 1983, Haggard/Eimer 1999, Haynes 2008, Schmidt 2018) unterschieden werden (Abb.4: 4).
- kommunizierbar – die KiE-Skala ist schnell und eindeutig und kann sowohl diskutiert wie auch automatisch dokumentiert und für DecisionMaking-Prozesse verwendet werden (Abb.4: 2).
Die Schwächen der natürlichen Intuition werden mit der KiE-Intuition weitgehend gelöst und teilweise in Stärken umgeformt. Durch dieses Vorgehen kann sie weiter entschlüsselt werden:
- Die geringe Differenzierung wird in eine klar zu unterscheidende Bewertung und Entscheidung mittels KiE-Skala umgeformt (Abb.4: 1).
- Die in Erklärungen, Begründungen und Rechtfertigungen verschleierte natürliche Intuition erhält einen klar zu kommunizierenden Ausdruck in einer einzigen KiE-Zahl mit Leitfrage und Bedeutungsbereichen (Abb.2: 1 und 2).
- Die Logik der Emotionen lässt sich mittels der jeweiligen Emotion im Bewegungsimpuls sowie der begleitenden Emotionsgefühle dekodieren. Dafür ist das Wissen zur KiE-Emotionstheorie notwendig (Abb.1: 3).
Die KiE-Intuition befreit die Intuition aus ihren natürlichen Fesseln und wird als bewusste Entscheidung (Abb.4: 5) zum wichtigen DecisionMaking-Tool.
Die KiE-Intuition und das Bauchgefühl
Die Diskussion über das Bauchgefühl (Gigerenzer 2015) ist hoffähig geworden und wird in der individuellen, wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Diskussion akzeptiert. Nur sollte man Vorsicht walten lassen beim unreflektiert wahrgenommenen Bauchgefühl. Nehmen Sie ein Gefühl wahr, sind Sie bereits jenseits der Intuition, wahrscheinlich sind schon emotiv-kognitiven Zyklen durchlaufen.
Die KiE-Intuition erscheint bei niedriger emotionaler Erregung ohne Gefühl (Abb.5: emotionale Erregung 1-3), unabhängig davon, ob es sich um ein angenehmes oder unangenehmes Gefühl handelt. Das Gefühl als Begleiteffekt wird bei emotionaler Erregung stärker (Abb.5: emotionale Erregung 4-5) und die KiE-Intuition ist über einer emotionalen Erregung von (5) nicht mehr zu gebrauchen (Abb.5: emotionale Erregung 6-10), weil die Logik der Emotionen dominiert (Abb.5).
Die KiE-Intuition ist nur bis zu moderater emotionaler Erregung anzuwenden, auch wenn sie bei hoher Erregung stärker wirkt. Sie birgt dann aber ein zu hohes Risiko und sollte zuerst reguliert werden. Nutzt man die KiE-Intuition auf diese Weise, werden durch die emotiv-kognitiven Zyklen die neuronalen-emotionalen Strukturen geformt.
Neue Dimension der Zusammenarbeit
Mit der KiE-Intuition wird eine neue Form der Zusammenarbeit eröffnet. Das Expertenwissen aller ist blitzschnell bewusst abzurufen. Mit der KiE-Intuition kann immer in wenigen Millisekunden eine erste individuelle Entscheidung bewusst abgerufen werden. Genauso zeigt die KiE-Intuition im Team eine erste Sicht auf Vorhaben, Qualität und gemeinsam getragene Entscheidungen. Vor allem dient die KiE-Intuition zusammen mit der KiE-Skala als Basis-Baustein für DecisionMaking-Prozesse, die alle agilen Ceremonies, tradierte Meetings und Interaktionen bereichern und um einen Faktor 2 bis 4 beschleunigen.
Integration in DecisionMaking-Prozesse
Die besondere Bedeutung bekommt die KiE-Intuition im Agile-Way-of-Working und für traditionelles Leadership, wenn Teams offen, fokussiert und bei 100% Beteiligung auf Augenhöhe miteinander zusammenarbeiten. Im Zusammenwirken mit den DecisionMaking-Prozessen, in die die KiE-Intuition integriert ist, wird das Potenzial der agilen Methoden voll ausgeschöpft, indem sie gleichermaßen Geschwindigkeit, Qualität und Zusammenarbeit der Agile Events und Artefacts fördern, damit Menschen die Chance erhalten, es gut zu machen.
KiE-Intuition und KiE-Skala bilden die Basis der KiE-Tools. Die Anwendung von DecisionMaking mit integrierter und akzeptierter KiE-Intuition entwickelt eine Entscheidungskultur von Wertschätzung, Vertrauen und Augenhöhe.
Die natürliche Intuition wirkt unaufgefordert in jeder Entscheidung und die KiE-Intuition kann bewusst aufgerufen werden. Mit diesen beiden Merkmalen kann ein Design für eine individuelle Entscheidungsstrategie entworfen werden, in der beide enthalten sind und man sicher gute Entscheidungen herbeiführen kann.
Was für die natürliche Intuition gilt, gilt umso mehr für die KiE-Intuition: jeder Mensch verfügt über sie und jeder kann bewussten Gebrauch von ihr machen. Sie zu erlernen dauert wenige Stunden und eine immer feinere Differenzierung entsteht von selbst, wenn man die KiE-Intuition anwendet.
Jedoch kann die Wahrnehmung für eine feine Differenzierung trainiert werden. Vor allem kann das Selbstverständnis zur bewussten Nutzung der Intuition gelernt werden und damit die Integration in praxiserprobte DecisionMaking-Tools. Die intuitive Entscheidung sollte, eingebunden in praxisnahe DecisionMaking-Tools, zum Handwerkszeug aller Entscheider werden.
DecisionMaking-Prozesse
Die Untrennbarkeit von Emotionen, Intuition und Kognition, die KiE-Trilogie, diente als Design-Vorgabe für praxisorientierte DecisionMaking-Prozesse (Graf 208), die Individuen sowie Teams erlauben, gute Entscheidungen sicher und zeitnah herbeizuführen. Die Entscheidungskultur (Abb.6) sowie die normierenden Werkzeuge werden in einem zyklischen Prozess mit Individuen sowie in Teams verfeinert und verfestigt.
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April 2020, Richard Graf und Elsa Graf
„Die natürliche Intuition hat zu viele Risiken. Mit der KiE-Skala wird sie zur bewussten Entscheidung.“ RICHARD GRAF
Quellen
Graf, Richard: Die neue Entscheidungskultur: mit gemeinsam getragenen Entscheidungen zum Erfolg. Carl Hanser Verlag GmbH Co KG, 2018
Benjamin Libet, Brain (1983), 106,623-642 TIME OF CONSCIOUS INTENTION TO ACT IN RELATION TO ONSET OF CEREBRAL ACTIVITY (READINESS-POTENTIAL) THE UNCONSCIOUS INITIATION OF A FREELY VOLUNTARY ACT
Kornhuber, Hans Helmut; Deecke, Lüder (1964): Hirnpotentialänderungen beim Menschen vor und nach Willkürbewegungen, dargestellt mit Magnetbandspeicherung und Rückwärtsanalyse. In: Pflügers Arch. 281, 1964, S. 52
Damásio, Antonio R.: Descartes’ Irrtum: Fühlen – Denken und das menschliche Gehirn, List, 1994
Joseph E. LeDoux: The Emotional Brain, Simon and Schuster, New York (1996)
Beatrice de Gelder Alessia Celeghin, Marc Tamietto: From affective blindsight to emotional consciousness, 2015, Consciousness and Cognition 36, 414-425
Solanas, Marta Poyo, Maarten J. Vaessen, and Beatrice de Gelder. „The role of computational and subjective features in emotional body expressions.“ Scientific Reports 10.1 (2020): 1-13.
Haggard Patrik, Eimer Martin: On the Relation between Brain Potentials and the Awareness of Voluntary Movements. Experimental Brain Research 126:128–133, 1999
Haynes, John-Dylan: Beyond Libet: Long-term prediction of free choices from neuroimaging signals.“ Characterizing Consciousness: From Cognition to the Clinic?. Springer, Berlin, Heidelberg, 2011. 161-174.Gigerenzer, Gerd. Risiko. Wie man die richtigen Entscheidungen trifft 2 (2013): 147-151.
Schmidt Stefan, Joa Han-Gue, Wittmann Marc, Hinterberger, Thilo: Catching the waves’ – slow cortical potentials as moderator of Voluntary action, 2018